Dokumentation „Antidemokratisches Denken in Wissenschaft und Hochschule“
Im Rahmen des Profilmoduls „Aktuelle Diskussionen in den Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie“ bot der Fachbereich „Gesellschaftswissenschaften und Philosophie“ (FB 03) der Philipps-Universität Marburg im Sommersemester 2015 die Vorlesung mit dem Titel „Antidemokratisches Denken in Wissenschaft und Hochschule“. Die interdisziplinäre Ringvorlesung, deren Vorträge antidemokratisches Denken an der Universität in Theorie und Praxis thematisieren, wurde in einer statusgruppen- und fächerübergreifende Arbeitsgruppe organisiert.
Die Vorträge decken eine weite Bandbreite ab und erstrecken sich von der theoretischen Auseinandersetzung mit rechtsextremen und anti-feministischen Ideologien über die Wissenschaftsgeschichte bis hin zu konkreten Erscheinungsformen der intellektuellen Rechten wie den Burschenschaften. Der Fachbereich geht mit dieser Veranstaltungsreihe auf verschiedene Vorfälle, die sich in jüngster Vergangenheit in diesem Zusammenhang in Marburg ereignet haben, und auf die Forderungen von Studierenden und Mitarbeiter_innen nach einer kritischen inhaltlichen Auseinandersetzung mit rechtem, antifeministischem und antisemitischem Gedankengut ein.
Neben bundesweiten konkreten Ereignissen, die von verschiedenen Akteur_innen mit antiaufklärerischen bis radikal rechten Politik- und Gesellschaftsvorstellungen getragen werden, sind es gerade aktuell auch antidemokratische Aktivitäten aus dem wissenschaftlichen akademischen Kontext, die zunehmend öffentlich werden und die auch Marburg und den FB 03 direkt oder indirekt betreffen. Dazu gehört unteranderem, dass im Januar die Marburger Burschenschaft Germania den Vorsitz der Deutschen Burschenschaft übernommen hat und dass auch durchaus Verbindungsmitglieder am FB 03 studieren. Zum anderen galt die negativen Kampagnen, die sich gegen Wissenschaftler_innen aus der Geschlechter- oder Sexualitätsforschung richteten, aufzuarbeiten und zu kritisieren.
Einzelbeiträge
15.04.2015: Antidemokratisches Denken in Wissenschaft und Hochschule – Einführung in die Ringvorlesung (Ursula Birsl, Marburg)
In der Auftaktveranstaltung gibt Ursula Birsl, Professorin für Demokratieforschung mit den Schwerpunkten EU, Politische Systeme im europäischen Vergleich und der Bundesrepublik Deutschland, einen Überblick über die Anlässe, die die zur Organisation dieser Veranstaltungsreihe geführt haben und verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen den thematischen Schwerpunkten der Ringvorlesung. Als roter Faden durch die Vorlesungsreihe zieht sich der Fokus auf verschiedene Formationen antidemokratischen Denkens, ihr Ausdruck und ihre Auswirkungen in Lehre und Forschung. Dabei ist die Ringvorlesung konzeptionell in drei Blöcke gegliedert: I. Einführung: Theorielandschaft um Rechtsextremismus und Extremismusbegriff, II. Extreme Rechte an Hochschulen – Erscheinungsformen und Aktivitäten und III. Bildung und Beratung – Gegenkonzepte.
22.04.2015: Extremismus der Mitte (Samuel Salzborn, Göttingen)
Den zweiten Vortrag der Ringvorlesung hält Samuel Salzborn, der derzeit die Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen innehat. In seinem Beitrag setzt er sich auf theoretischer Ebene mit dem Begriff des Extremismus und verschiedenen Erscheinungsformen auseinander. In einem nächsten Schritt geht Salzborn auf die unterschiedlichen Erklärungsansätze von Extremismus ein. Er erläutert, weshalb aus seiner Sicht der Ansatz des ‚Extremismus der Mitte‘ anderen Erklärungsansätzen vorzuziehen ist. Dieser geht auf den amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset zurück, der ihn 1959 unter dem Label „extremism of the center“ entwickelt hat. Mit dem Erklärungsansatz des ‚Extremismus der Mitte‘, sei es Salzborn zufolge sowohl in der Forschung wie auch in politischen Auseinandersetzungen eben nicht möglich, Rechtsextremismus als Rand(gruppen)phänomen zu deklarieren.
29.04.2015: „Amour, Absinth, Revolution“. Männerbündische Phantasien im 21. Jahrhundert (Alexandra Kurth, Gießen)
Alexandra Kurth, Politologin, spricht in ihrem Vortrag „Amour, Absinth und Revolution – Männerbündische Phantasien im 21. Jahrhundert“ über Studentenverbindungen als letzte Bastion gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. An ver. Beispielen verdeutlicht sie Männlichkeitskult und Sexismus als konstitutiven Charakter einer geschlossenen Gemeinschaft.
06.05.2015: Philosophie im Nationalsozialismus (David Palme, Frankfurt) Moderation: Winfried Schröder (Marburg)
In seinem Vortrag „Nationalsozialistische Philosophie“ stellt David Palme die These auf, dass es eine originär nationalsozialistische Philosophie gibt und gab. Er wendet sich dabei gegen Positionen, wie die des Konstanzer Philosophen Gereon Wolters oder des Chemnitzer Totalitarismusforschers Lothar Fritze, die entweder behaupten im Nationalsozialismus habe es keine eigene Philosophie gegeben bzw., die Ansichten dieser Zeit seien nicht von „normaler“ Philosophie zu unterscheiden. Solche Erklärungen hält er für einen unzulässige Freispruch der Philosophie, und widerspricht ihnen daher im Verlauf des Vortrags auf Basis der historischen Quellen. So habe es eine von NS-Institutionen geförderte akademische Forschung gegeben, die auf philosophische Fragen philosophische Antworten im Sinne des NS lieferte. Dies wird anhand zahlreicher Zitate von NS-Autoren belegt, u.a. Alfred Bäumler, August Faust oder dem Marburger Erich Jaensch. Die Frage, was dabei als „nationalsozialistisch“ zu gelten habe wird als zentrales Problem behandelt, an das sich weitere philosophische Überlegungen anschließen. Die Philosophie hat es bisher versäumt, sich der Auseinandersetzung um die eigene Rolle in Bezug auf den NS zu stellen. Der Vortrag fordert, dies endlich nachzuholen.
13.05.2015: Rasse und Rassismus. Eine Kategorie und Praxis moderner Ungleichheit (Matti Traußneck, Marburg)
Der Vortrag behandelt Entstehung, Geschichte, Ideologie und Funktionsweise des Rassismus. Durch eine materialistische Rekonstruktion wird deutlich, wie rassistische Konzepte aus den Ideen der Aufklärung, der Wissenschaft und des Fortschritts entstanden sind. Die in sich widersprüchlich erscheinende Ideengeschichte der Moderne kann erst durch eine Konfrontation mit der Geschichte ihrer ökonomischen Entwicklung verstanden werden. Daran zeigt sich, wie die weltweiten Kämpfe um Freiheit und Unfreiheit, Gleichheit und Ungleichheit auf dem Zusammenhang von Ökonomie und Philosophie beruhen.
20.05.2015: Rechts verbunden. Die Deutsche Burschenschaft und andere Studentenverbindungen und ihre Überschneidungen zur extremen Rechten in Vergangenheit und Gegenwart (Jörg Kronauer)
Jörg Kronauer, Autor und Publizist, veranschaulicht in seinem Vortrag „Rechtsverbunden – Die Deutsche Burschenschaft und andere Studentenverbindungen und ihre Überschneidungen zur extremen Rechten in Vergangenheit und Gegenwart“ personelle und ideologische Schnittmengen zwischen studentischen Verbindungen und antidemokratischen Bewegungen. Grundlage für diese Verknüpfung sind Kronauer zufolge eine völkische ‚Blut-und-Boden-Ideologie‘ und die Idee der Konservativen Revolution, die sowohl Verbindungen wie antidemokratische Bewegungen verfolgen. In seinem Vortrag behandelt Kronauer exemplarisch die Deutschen Burschenschaft, die Deutsche Gildenschaft und den Coburger Convent, da diese Überschneidungen bei allen dreien vorzufinden seien.
03.06.2015: Die intellektuelle Rechte in Deutschland – und Marburg. Ideologien und Strategien (Ursula Birsl, Marburg)
Ausgangspunkt des Vortrags von Ursula Birsl ist der Versuch der intellektuellen Rechten, sich mit ihrer Ideologie im bürgerlichen Milieu zu etablieren. Diese Strategie könne auch deshalb relativ ungehindert durchgeführt werden, da sowohl keine oder nur eine halbherzige öffentliche, politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Vorhaben und der Weltanschauung dahinter stattfinde. Der derzeitige dominante öffentliche und wissenschaftliche Diskurs beschäftige sich, derzeit stark geprägt durch den NSU, lediglich mit dem Gewaltpotenzial der extremen Rechte – nicht jedoch mit der „ideologischen Rahmung und Sinnstiftung“ (Birsl), auf die sie sich beziehen. In ihrem Vortrag wählt Ursula Birsl, in Anlehung an den Politkwissenschaftler Wolfgang Gessenharter, einen bewegungstheoretischen Zugriff, um die Bedeutung der intellektuellen Rechte zu untersuchen. Mit diesem sei ersichtlich, dass die intellektuelle radikale Rechte eine Doppelfunktion erfüllte: zum einen könne sie als „Scharnier zum Konservatismus und zu etablierten Parteien bezeichnet werden“ (ebd.). Zum anderen fungiere die intellektuelle Rechte als Bewegungselite, welche das ideenpolitische Framing bereitstelle, an dem sich bspw. Gewalttäterinnen wie der NSU, aber auch extrem rechte Parteien oder freie Kameradschaften orientierten. Besorgniserregend ist Birsl zufolge, dass die Akteurinnen der der intellektuellen nicht am Rand der Gesellschaft befänden, sondern der „gesellschaftlichen Funktionselite“ zuzurechnen seien. Nach ihrer gesellschaftlichen Verortung analysiert Ursula Birsl die intellektuelle radikale Rechte hinsichtlich ihrer Ziele und der Diskussionsfelder der intellektuellen Neuen Rechten nach Gessenharter sowie ihrer eigenen Ergänzungen. Des Weiteren geht sie bei der Untersuchung auf das radikal rechte Denken ein, wobei sie zwischen zwei strukturanalytischen Dimensionen unterscheidet: der Ideologie der natürlichen Ungleichheit sowie der strukturellen Gewaltperspektive. In einem nächsten Schritt geht Birsl auf die Rückkehr antidemokratisches Denkens in der Öffentlichkeit ein. Hierbei macht sie drei Ereignisse aus, welche diese Entwicklung seit den 1980ern unterstützten: Erstens das sog. ‚Heidelberger Manifest‘, zweitens Bundeskanzler Kohls ‚geistig-moralische Wende‘ sowie letztendlich der sog. Historiker_innenstreit. Diese Ereignisse hingen „eng mit einem Neokonservatismus zusammen, der sich in dieser Zeit durchzusetzen begann“ (ebd.). Zum Abschluss ihres Vortrags ihres Vortrages verknüpft Birsl die intellektuelle Rechte mit Marburg und hierbei insb. der Burschenschaft Germania. Die Quintessenz Birsl in ihrem Vortrag ist, dass die Neue Rechte eine Bewegung von oben ist, welche sowohl gesellschaftlich, wie auch politisch-kulturell, eine Gefahr für die Entwicklung der Demokratie darstellt.
10.06.2015: Talare, Wichs und Jeans. Zur Spiegelung der Universitätsreform 1968-1974 in einem kleinen Fach (Siegfried Becker, Marburg)
Der Vortrag Prof. Siegfried Beckers ist der Beitrag der Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft der Ringvorlesung. In seinem Vortrag geht Becker zunächst auf die Geschichte des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie ein. Dabei erläutert er ebenfalls die Rolle des Instituts der Europäischen Ethnologie / Kulturwissenschaft, wobei das Studienfach früher noch als „Völkerkunde“ bezeichnet wurde. Dabei bemängelt Becker nicht nur die Weigerung von Wissenschaftlern, die eigenen Verstrickungen während der NS-Zeit aufzudecken. Auch den Unwillen vieler Wissenschaftler_innen, die Rolle der Wissenschaft während dieser Zeit generell aufzudecken, wird von ihm stark kritisiert. Mit dieser kritischen Auseinandersetzung des geschichtlichen Abrisses erläutert Becker in einem nächsten Schritt, wie die Geschichten des Fachbereichs sowie des Instituts in einem gr. Rahmen, der Geschichte der Universität, einzubetten sind. Becker zeichnet des Wandel des Hochschulsystems nach, beginnend bei der sog. ‚Ordinarienuniversität‘ bis hin zur sog. ‚Gruppenuniversität‘. Mit der Verweis darauf, dass einige, zur Zeit der Ordinarienuniversität gebräuchlichen Sprachmuster, mittlerweile wieder ‚en vogue‘ seien, leitet Siegfried Becker zu seinem letzten Part des Vortrags über. In diesem zieht er Parallelen zw. den Machtstrukturen und Hierarchien der Ordinarienuniversitäten zu Burschenschaften und führt aus, dass sich viele Traditionen von Burschenschaften auf die NS-Zeit oder gar das Kaiserreich zurückführen lassen mit dem Versuch, diese bewahren.
01.07.2015: Beratung im Kontext Rechtsextremismus (Reiner Becker und Tina Dürr, Marburg)
Reiner Becker und Tina Dürr berichten in ihrem Vortrag „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“ von der Arbeit des Demokratiezentrums Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Dabei gehen sie auf Geschichte, Struktur und Praxis der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus ein und erklären die verschiedenen pädagogischen und zivilgesellschaftlichen Grundsätze der seit den 90er Jahren aufgenommenen Programme.
08.07.2015: Pädagogik gegen rechts – Erziehung, Bildung und Prävention (Benno Hafeneger, Marburg)
Benno Hafeneger hat derzeit die Professur für ausserschulische Jugendbildung am Institut für Erziehungswissenschaften an der Philipps-Universität inne. Sein Vortrag ist der letzte aufgenomme der Ringvorlesung und gehört wie der von Becker/Dürr zum letzten thematischen Block ‚Bildung und Beratung – Gegenkonzepte‘.
Der Vortrag Hafenegers handelt von den Möglichkeiten und auch Grenzen von Bildung und Pädagogik gegen rechts. Dabei ist die These Hafenegers, dass ‚Pädagogik gegen rechts‘ per sei ein Widerspruch ist. Seinem Verständnis nach sollte nicht gegen, sondern für etwas sein, da der Pädagogik stehts ein fortschrittlicher Charakter inhärent sei. Hierbei sei es von besonderer Bedeutung, auf politische Bildung und eine „kritische Bewusstseinsentwicklung“ zu setzen, weshalb u.a. das Demokratiezentrum Hessens gegründet wurde. Innerhalb der Pädagogik gegen rechts gibt es drei Ansätze, die Hafeneger in seiner Vorlesung vorstellt: die Akzeptierende Jugendarbeit, das Anti-Aggressivitäts-Training sowie die Interkulturelle Arbeit.
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